Als die Daten reisen lernten

SX-64-Monitor. Bild: Stefan Höltgen

Eine Archäologie der Disketten-Magazine

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Kaum eine Technologie auf dem Computersektor ist wirklich neu. Die meisten Dinge, die als Neuerung erscheinen, haben entweder direkte Vorläufer oder unter ihren Oberflächen zeigen sich Verwandtschaften zu Vergangenem als Spuren von Ideen, die manchmal bis weit zurück in die Geschichte führen. Dass beispielsweise die logischen Schaltkreise der Computer auf Ideen beruhen, die vor 3500 Jahren in der griechischen Philosophie ersonnen wurden, zählt ebenso hierzu, wie die Herkunft der Pixelgrafik aus der Technik der Weberei und die Ordnung der Binärzahlen aus der chinesischen I-Ging-Philosophie.

Solche Spuren zu suchen, stellt eine Art Archäologie dar - eine Archäologie der Gegenwart, denn sie gräbt nicht in Ruinen nach den Relikten vergangener Generationen, sondern nach verborgenen Ideen in gegenwärtigen Technologien.

Ich möchte diesen Gedanken im Folgenden für das Medienformat des Disketten-Magazins (kurz: Diskmags) ausführen und zeigen, aus welchen Technologien, Ideen und kulturellen Bedingungen es hervorgegangen ist. Dies wird uns von US-amerikanischen Studenten der 1950er-Jahre über verschiedene Netzwerke der 1980er-Jahre bis zu den Datenverteilungstechnologien der Gegenwart führen, in welchen die Diskmags schließlich "aufgehoben" sind. (Dieser Beitrag stellt die leicht überarbeitete Fassung eines Essays dar, der in der Ausgabe 108 des Diskmags "Digital Talk" veröffentlicht wurde.)

Diskmags als Medien

Zuvor sollte zuerst einmal geklärt werden, was überhaupt unter "Medien" zu verstehen ist. Wenn man heute von "den Medien" spricht, dann sind damit zumeist die Massenmedien, ihre Produzenten, Formate oder Inhalte gemeint: Das Fernsehen und seine Sendungen, die Printmedien und ihre Texte, Hollywood und seine Filme etc. Ich möchte den Begriff aber etwas enger fassen und als Medien konkrete Apparate zum Verarbeiten, Speichern und Übertragen von Informationen bezeichnen; statt "das Fernsehen" also "den Fernsehapparat", statt "die Printmedien" also "das Papier" und statt der "den Computer" (im Kollektivsingular) die Computer und ihre spezifischen Funktionsweisen.

Die meisten historischen Medien sind heute in Computerprozessen "aufgegangen": entweder man benutzt einen Fernseher, der eigentlich ein computergesteuertes Pixel-Display ist, oder man liest die Online-Ausgabe einer Zeitung direkt am Computerbildschirm. Mit diesem Verschwinden der einzelnen, spezialisierten Medientechnologien und -apparate findet eine Konvertierung statt: Digitalisierung meint dabei die Computerisierung von Medieninhalten, Algorithmisierung die Computerisierung von Medienfunktionen.

Diskmags waren, so betrachtet, also nie ein Medium, sondern immer schon ein Format, in dem spezifische Inhalte wiedergegeben werden können: Texte, Bilder, Töne. Aber wie bei allen Medienformaten nimmt auch bei Diskmags das technische Dispositiv Einfluss auf diese Inhalte. Anders als Zeitungen können Beiträge hier hypertextuell sein, denn sie erlauben das Springen zu bestimmten Inhalten per Tastendruck. Von der ersten Seite gelangt man damit genauso schnell zur zweiten wie zur dreißigsten Seite.

Und dennoch sind sie noch "weniger" als Internetseiten, denn die Sprünge können nicht beliebig weit und nicht jenseits des Systems führen: Es gibt eine Speichergrenze der Diskette(nseite), die bei Erreichen ein spezifisches "Umblättern" erfordert: das Umdrehen oder Wechseln der Diskette. Und es gibt eine Systemgrenze, die nicht übersprungen werden kann (etwa zu einem Text, der auf einem anderen Computer gespeichert ist). Und anders als bei gedruckten Medieninhalten sind auch der Zeichenvorrat und die Zeichenstile begrenzt sowie die Illustrationsmöglichkeiten in Auflösung und Farbtiefe eingeschränkt.

Das technische System (hier der C64 und seine Peripherien) definiert also deutlich die Grenzen und Möglichkeiten des Formats Diskmag und seiner Inhalte. Man könnte sagen: Der C64 schreibt sich in meinen Beitrag ein und an diesem mit, indem er mich und meine Lesern in seine 1982 gesteckten Grenzen verweist.

SX-64-Monitor. Menü der Digital Talk (Ausgabe 100), 160 mal 200 in 16 Farben. / Öffentlicher Brief in der Digital Tals (Ausgabe 107), 16 Zeilen und 40 Zeichen. Bilder: Stefan Höltgen

Diese Erkenntnis mag zunächst trivial erscheinen, an ihr kann jedoch der "hybride" Status von Diskmags gut gezeigt werden. Sie existieren in einem medientechnischen Zwischenraum und einer Zwischenzeit: Sie sind noch keine Webseiten, aber auch keine bloßen Zeitungen mehr. Sie ähneln damit eher Brückentechnologien wie dem BTX oder dem Videotext - von denen sie sich aber nicht nur durch ihre Soundtracks und Animationen, sondern vor allem durch ihre Distribution deutlich unterscheiden.

Information wants to be free

Die Aufgabe von Medien ist, wie geschrieben, das Verarbeiten, Speichern und Übertragen von Informationen. Der Computer, auf dem dieses Diskmag ausgeführt wird, verarbeitet dessen Programm und Daten (intern speichert er sie dazu auch kurzfristig und überträgt sie über kurze Distanzen). Datenträger, wie die Diskette auf der sich das Diskmag befindet, speichern die Informationen langfristig. Fehlt also nur noch die Übertragung über größere Distanzen. Vor der flächendeckenden Vernetzung der Computer im Internet kamen dafür nur zwei Möglichkeiten in Frage: die Datenfernübertragung über das Telefon mit Hilfe eines Modems/Akustikkopplers oder die Übermittlung über bestehende "analoge" Netze. Beide Varianten haben denselben Ursprung.

In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre entstand am Bostoner MIT der erste so genannte Hackerspace. Für die Studenten, die die Großrechner, welche von den System-Operatoren bewacht wurden, endlich selbst einmal bedienen wollten, wurde mit der Anschaffung des TX-0-Computers der Traum wahr. Schon bald begannen sie eigene Programme für diesen Rechner in Maschinensprache zu schreiben. Aus Stolz und zum Wettbewerb "veröffentlichten" sie ihre Werke, die auf Lochstreifen gestanzt wurden, indem sie sie in eine unverschlossene Schublade eines im Computerraum stehenden Schrankes hinterlegten. Von dort konnten Kommilitonen sie herausnehmen, in den TX-0 laden, verändern/verbessern, abermals auf Lochband speichern und zurück in die Schublade legen, damit die nächsten damit arbeiten konnten.

Dieses frühe "File Sharing"-System war ganz ungeplant entstanden, etablierte aber bald unausgesprochene Regeln, an die sich jeder hielt (und die später als Hacker-Ethik bekannt wurden). Eine davon lautete: "All information should be free." Diesem Credo war jede Software, die von dieser Community entwickelt wurde, verpflichtet - von kleinen Zahlenkonvertierungsroutinen bis hin zu kompletten Betriebssystemen.

Der TX-0 besaß einen eingebauten Lautsprecher, der dazu verwendet wurde, Leitungen des Systembusses abzuhören, um so herauszufinden, ob sich der Computer aufgehängt hatte (was an rhythmischen Wiederholungen hörbar gewesen wäre). Bald schon kam einer der Hacker auf die Idee, diesen Lautsprecher nicht nur für musikalische Zwecke (um)zunutzen, sondern mit ihm Signale zu erzeugen, mit denen sich das Campus-Telefonsystem so manipulieren ließ, dass man damit kostenlos telefonieren konnte.

Was kurz zuvor bereits von von Militärforschern im Geheimen konzipiert worden war (Radardaten über das Telefonnetz an Rechenzentren zu übertragen), wiederholte sich hier quasi als ganz natürliches Anwendungsfrage von Hobbyisten: Computer untereinander zu vernetzen. Von hier ab war es nur noch eine Frage der Zeit, bis übers Telefonnetz auch private Computersignale zwischen Rechnern ausgetauscht wurden. Die so genannte "Phreaker"-Szene (Leute, die sich ins Telefonsystem hacken) vernetzte ab den 1970er-Jahren Rechner über eigentlich kostenpflichtige Telefonleitungen zum Nulltarif miteinander.

Die Verdatung der Netze

Das Subversive an diesen Ideen der MIT-Studenten lag aber weniger im Austausch von Daten oder dem Freischalten kostenpflichtiger Telefondienste (denn diese Funktion war im Telefonsystem ja vorgesehen), als im "Missbrauch" bereits bestehender Netz-Infrastrukturen zum Zwecke der Datenfernübertragung. Zuerst wurde eine Schublade zum "FTP-Archiv", anschließend das für die Sprachkommunikation ausgelegte Telefonsystem zum Datennetz umfunktioniert. Dieses Prinzip hat sich über die folgenden Jahrzehnte weiter entwickelt und wurde auf ganz unterschiedliche Netze ausgedehnt. Daten wurden über den Rundfunk (audiokodiert) versendet, über die Austastlücken des Fernsehsignals (etwa der Videotext), über die Stromleitungen (auf die Netzspannung aufmoduliert), ja, selbst über die Gleise des Schienennetz.

Solche Technologien waren aber zum einen für Privatleute, die sich ab Mitte der 1970er-Jahre Computer bauten oder kauften, noch kaum erreichbar oder gar erschwinglich. Zum Anderen war diese Kommunikation ja auch bloß unidirektional. Die zumeist jungen Benutzer von Homecomputern wollte sich aber austauschen und mussten sich daher mit anderen Mitteln vernetzen.

Hier kam ihnen zunächst eine Eigenschaft ihrer Systeme entgegen, die eines der zentralen Verkaufsargumente für Homecomputer war: Computer sollten sich möglichst problemlos in die heimische Medienlandschaft einfügen lassen. Deshalb wurde den 8-Bit-Systemen von Atari, Commodore, Sinclair und anderen nicht nur gleich eine Schreibmaschinentastatur, die viele Nutzer aus den Büros ihrer Eltern kannten, mitgegeben, sondern auch Schnittstellen, an denen vorhandene "Peripherie" angeschlossen werden konnte.

Neben den alten Atari-VCS-Joysticks konnte man deshalb auch den Fernsehapparat im Wohnzimmer zum Monitor und den Kassettenrecorder aus dem Kinderzimmer zum Datenrecorder umfunktionieren. In Computerzeitschriften konnte man zudem Bauanleitungen finden, um noch mehr Geräte mit dem Rechner zu verbinden - selbst Anleitungen zum Bau eines "Datenklo"-Modems mit Mitteln aus dem Baumarkt.

Kleinanzeigen-Seite in der Zeitschrift "HC - Mein Home-Computer". Scan: Stefan Höltgen

Computerzeitschriften besaßen aber noch eine andere Funktion, die bedeutsam in unserem Zusammenhang ist: Über sie konnten sich die Computernutzer persönlich und maschinell miteinander "vernetzen". In den Kleinanzeigen fanden sich neben Kontaktangeboten auch Tauschanfragen für Datenträger, die eigene und "fremde" Programme enthielten.

Wem diese Vernetzung, deren Rückkanal über den Postweg lief, (urheber)rechtlich zu heikel erschien, der konnte Datenträger auch bei persönlichen Treffen, zum Beispiel auf dem Schulhof, tauschen und von einem Computerveteranen wurde mir berichtet, dass man sogar den Regionalverkehr der Bahn zum "Versand" von Disketten nutze, indem der "Sender" die Diskette in Ort A in einem Waggon versteckte, aus welchem der Empfänger in Ort B sie dann später abholte.

Daten tragen

Informationen, die in einem Computer gespeichert sind, von diesem verarbeitet oder übertragen werden, existieren nicht als reale Objekte. Sie sind lediglich Spannungsdifferenzen, die die Unterscheidung zwischen zweier Zustände erlauben; eine Anzahl von Elektronen, die sich in einem festgelegten Zeitraum durch einen Leiter bewegen. Erst durch die "Interpretation" des Computers und des Nutzers werden Programme oder Daten daraus. Aber nur solange, wie diese Information im Signalzustand sind, lassen sie sich durch Leitungen senden.

Bestimmte Anwendungen und Nutzungsweisen erfordern jedoch eine Materialisierung dieser virtuellen Existenz: Damit Informationen gelesen und archiviert werden können, müssen sie beispielsweise auf Papier ausgedruckt werden. Damit sie auch jenseits elektronischer Netze transportabel sind, müssen sie auf auf Datenträgern gesichert werden. Dadurch wird ihrem vormals "geisterhaften" Zustand Dimension und Gewicht verliehen. Und auf diese Weise können sie auch längere Zeiträume überdauern und nicht nur über Räume, sondern auch Zeiten hinweg "transportiert" werden.

Nicht allein deshalb erinnern die rotierenden, runden Disketten- und Festplattenscheiben an Schallplatten; mit ihnen teilen sich die Datenträger des Computerzeitalters auch jenen Auftrag der "Vergegenwärtigung" des scheinbar längst Verschwundenen und Vergessenen. Wie ein Zauber soll es den Hörern früher Grammophonaufnahmen vorgekommen sein, als sie die Stimmen nicht anwesender (und manchmal sogar bereits verstorbener) Menschen zu hören bekamen, so, als stünden diese im selben Raum. Das Grammophon und die Schallplatte schienen hier zu "Medien" im okkultistischen Sinne zu werden.

Mit den Massenspeichern von/an Computern verhält es sich ganz ähnlich. Der Effekt zeigt sich besonders dann, wenn der Zeitraum zwischen Sendung/Speicherung und Empfang/Laden groß ist. Der Nostalgie-Effekt, den nicht nur historische Computerspiele, sondern auch alte Datenträger mit eigenen Programmierexperimenten und anderen Speicherungen "von damals" auf uns haben, ließe sich auch vielleicht auch hiermit erklären. Die "Vergegenwärtigung" der (alten) Informationen schlägt eine Brücke zwischen uns im Hier und Jetzt zu uns von damals und dort. Analoge und digitale Speicher sind immer auch solche Brücken über die Abgründe von Raum und Zeit.

Disk(i)mag(e)s

Die Diskette war der Datenträger, der Speichermenge, Haltbarkeit, Unempfindlichkeit und leichte Transportierbarkeit von Daten in sich vereinigte. 1969 vom US-amerikanischen Ingenieur Alan Shugart erfunden, bildete sie sich über die nächsten drei Jahrzehnte zum wichtigste externen Massenspeichermedium für Computer heraus und ist für diesen Zweck so "ikonisch" geworden, dass noch in Programmen aktueller Computer, die längst gar keine Disketten mehr nutzen (können), das Disketten-Icon für Datenschreib- und -leseoperationen steht.

Disketten gab es in unzähligen Formaten; angefangen mit 8 Zoll großen, quadratischen Scheiben, bei denen innerhalb einer PVC-Hülle eine biegsame, runde Kunststoffscheibe, beschichtet mit einem magnetisierbaren Material, verpackt war, über kleinere Formate in Hartplastik-Hüllen bis hin zu Wechselplattensystemen mit hunderten Megabyte Speicherkapazität.

5,25-Zoll-Diskette auf der dieser Beitrag per Post verschickt wurde. Bild: Stefan Höltgen

Das definierende Merkmal der Diskette war bei all ihren Unterschieden in Form und Kapazität ihre Mobilität. Bei vergleichsweise kleinen Ausmaßen und sehr geringem Gewicht eignete sie sich perfekt für den Transport in Taschen und Briefen. Aufgrund ihres geringen Gewichts, Maßes und Preises ermöglichte die Diskette erstmals den privaten und diskreten Austausch großer Datenmengen. Sie war damit das ideale Speichermedium für die Homecomputerära (wenngleich der Erwerb eines Diskettenlaufwerks zu Beginn für die meisten Computerbesitzer ein Luxus darstellte).

Das Dis-Swapping über die oben beschriebenen informellen Netze stellte lange Zeit einen "Warez"-Prototypen dar, bei dem (rechtlich) geschützte Daten unter der Hand weitergereicht wurden - sei's zu Geheimhaltungszwecken, aus Geldmangel sich die Originalsoftware zu kaufen, oder aus idealistischem Protest gegen die medienökonomische Vereinnahmung des Computerhobbies - denn alle Daten haben ja frei zu sein!

Im Retrocomputing ist die Diskette heute immer noch in Benutzung und zugleich zu einem manifesten Symbol für die Überbrückung von vergangener zu aktueller Mikrocomputer-Ära geworden. Software Preservation bedeutet zumeist: Datenübertragung von realen/materiellen/alten Disketten auf virtuelle Disk-Images. Letztere wurden in den vergangenen zwanzig Jahren für beinahe jedes historische Computersystem entwickelt und haben damit den Platz und die Bedeutung realer Disketten eingenommen.

Die ehemals notwendige Materialisierung der Daten, von der ich oben geschrieben habe, wird damit wieder kassiert und die Diskette von einem physikalischen Medium zu einem (Datei)Format. Der Gewinn ist die (wieder hergestellte) Übertragbarkeit der Daten durch elektronische Netze und ihre Portierbarkeit auf heutige Systeme und Speichermedien. Nicht wenige lesen diese Ausgabe der Digital Talk sicherlich in einem C64-Emulator, in den sie das virtuelle Disk-Image (das sie zuvor von der Homepage des Magazins geladen haben) laufen lassen. Ihnen entgeht dabei aber mehr als bloß das liebevoll gestaltete papierne Disk-Sleeve. Die gesamte Haptik, das Reale und das Einzigartige des Computing, das sich durch die Algorithmisierung von Hardware im Emulator aufgelöst hat.

Original-Diskettenausgabe der Digital Talk (Ausgabe 93). / Disk-Sleeve der Digital Talk (Ausgabe 106) zum Selbstausdrucken. Bilder: Stefan Höltgen

Die dreifache Aufhebung der Diskmags

Noch aber - hier vielleicht zum letzten mal? - sind Diskmags ein lebendiges Medien/Format-Relikt; diese Ausgabe der Digital Talk kann daher noch für eine Computerarchäologie der historischen Gegenwart herangezogen werden, um zu fragen, welche Spuren Diskmags in der Mediengegenwart hinterlassen hat. Und diese erscheinen mir zahlreich und tief. Seit 1981 die erste Ausgabe des "Softdisk Magazette" für den Apple II erschienen ist, gab es eine wahre Fülle von Disketten-Magazinen für alle möglichen Homecomputer-Systeme. Die meisten sind heute verschwunden, einige dauern jetzt noch als Formate fort und werden als Download vertrieben. Nur dieses erreicht seine Leser noch per Post auf Diskette.

Doch so, wie eine Medientechnologie keinen Anfang hat, so hat sie auch kein Ende. Das Riepl’sche Gesetz behauptet, dass Medien einander nicht ablösen, sondern von ihren Nachfahren absorbiert werden. Das, was man Konversion nennt - die Aufhebung aller historischen Medienformate im Computer - verdeutlicht dies ... und gilt auch für Diskette-Magazine.

Doch diese Einverleibung geschieht nicht ohne Spuren zu hinterlassen. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel spricht von einer Dreifachen "Aufhebung" als Überwindung von Widersprüchen, die sich hier als die Wiedersprüche zwischen Gestern und Heute, Format und Medium, Symbol und Signal, Realem und Virtuellem, Zeitung und Webseite usw. gezeigt haben. Aufhebung meint 1. die Beendigung einer Entwicklungsstufe: Etwas, das veraltet ist und nicht mehr benötigt wird, dessen Bedeutung ist aufgehoben (suspendiert). 2. die Aufbewahrung: Etwas, das wertvoll und erhaltenswert erscheint, wird bewahrt, konserviert, archiviert, musealisiert o.ä. Und 3. die Emporhebung der vermeintlichen Gegensätze zu einem neuen, "höheren" Dritten.

Mein Beitrag sollte zeigen, welche technischen, kommunikativen und sozialen Aspekte der Vergangenheit zur Entwicklung der Diskmags beigetragen und zu ihrer Entstehung (schon beinahe zwangsläufig) geführt haben. Durch die Digitalisierung und Algorithmisierung der Computergeschichte (ihrer Hardware und Software) und der Entwicklung neuer Speichermedien (von der CD-ROM bis zum USB-Flashspeicher) wurde die Bedeutung der Diskette als wichtig(st)er Datenspeicher aufgehoben. Als historisches Relikt (das unter Umständen sogar noch wichtige alte Daten enthält), als grafisches Icon für die Speicherung neuer Daten und das Laden "alter" Daten und selbst im ersten Namenbestandsteil von "Disk-Image" hat die Diskette bis heute überdauert - wurde im zweiten Sinne aufgehoben.

Man kann mit einigem Recht behaupten, dass die Brückentechnologie und das Brückenformat der Diskmags eine bedeutsame Zwischenstufe zwischen papierbasierter und webbasierter Kommunikation, zwischen virtueller und physikalischer Datenübertragung, zwischen maschinellem und menschlichem Informationsaustausch dargestellt hat. Computerarchäologie sucht nach genau solchen Brücken als Umbruchstellen zwischen Zeiten, Technologien und Kulturen, die durch Medien verbunden sind und stellt ihre Bedeutung für die Gegenwart heraus. Wir können viel von solchen Monumenten lernen, wenn wir sie nicht vorschnell als überholt, veraltet, nutzlos - als historisch - abtun und wegwerfen, sondern sie "aufheben".

Directory Art: Das Disketteninhaltsverzeichnis der Digital Tal (Ausgabe 100) enthält politische Botschaften. Bilder: Stefan Höltgen

Was es aber unbedingt jenseits der Technologien und Formate noch aufzuheben gilt, sind die Inhalte der Diskmags! Allein von der Digital Talk sind seit 1993 108 Ausgaben erschienen, mit ganz unterschiedlichen Beiträgen von verschiedenen Autoren. Diese Nachrichten der Vergangenheit sind ebenso zu archivieren wie die Technologie ihrer Erstellung und Distribution.

Unter dem Begriff der Knowledge Preservation werden deshalb das Wissen der Vergangenheit mit Hilfe unterschiedlicher Bewahrungsstrategien in der Gegenwart für die Zukunft erhalten. Niemand kann und darf heute entscheiden, was morgen für die Kultur, die Wissenschaft oder auch bloß den einzelnen, historisch Interessierten wichtig werden könnte. Daher gilt es die Möglichkeiten, die uns heutige Technologien bieten, um dieses Ziel zu erreichen, zu begrüßen.

Alle 108 Nummern der Digital Talk können auch dann noch aus Internet-Archiven abgerufen werden, wenn die Original-Disketten längst verschollen oder unlesbar geworden sind. Sie können als virtuelle Disketten-Images auf moderne Speichern geladen und in C64-Emulatoren gestartet werden, wenn die physikalischen Systeme vielleicht nicht mehr existieren. Denn Retrocomputing bedeutet auch, die (Computer)Gegenwart nicht zu verachten.

Epilog

Dieser Text basiert auf einer empirischen Studie - quasi einem Re-Enactment (im Sinne der experimentellen Archäologie). Ich habe hier zum ersten mal einen Beitrag für ein Disketten-Magazin geschrieben und entschieden mich dabei so weit wie möglich auf das Zielsystem (hier einen Commodore SX-64 mittels DT-Editor) einzulassen und von ihm einschränken zu lassen. (Dieser Beitrag in Telepolis stellt ein Transkript dar, dass ich später vom Monitor abgetippt habe.) Dies bedeutete eine markante Veränderung meiner gewöhnlichen Arbeitsweise: ein nur fünf Zoll großer CRT-Monitor, langsames Speichern und Lesen des Editors und der Textdateien von/auf Diskette, ungewohnte Tastatur und Tastenbelegung (wie oft habe ich wohl die "Home"-Taste getroffen als ich "Del" drücken wollte? Wie oft "y" statt auf "z" getippt?).

Beim Korrigieren und Editieren hat mir die Unmöglichkeit, Textteile von einer Dokumentseite auf eine andere zu verschieben, ein gänzlich ungewohnte Überarbeitungsmethoden aufgezwungen. Anders als bei einem Textverarbeitungsprogramm, wo der Entwurf im Kopf und die Niederschrift fast simultan auf dem Monitor möglich sind und dabei Korrekturen und Umformulierungen beim Schreiben passieren, musste ich jeden Satz genau planen und möglichst fehlerfrei eingeben. Das ist diesem Text anzusehen (wie ich als Autor meine).

Das Setup, auf dem dieser Text geschrieben wurde: Ein Commodore SX-64 mit MSD2IEC. Bild: Stefan Höltgen

Ich habe den Text schließlich in zwei Dateien auf eine 5,25-Zoll-Diskette abgespeichert und diese per Post an die Digital-Talk-Redaktion geschickt. Nicht verschweigen möchte ich aber, dass mir, quasi als "Rettungsnetz" ein MSD2IEC zur Verfügung stand, damit ich die Artikel-Dateien zur Not auch per E-Mail einreichen konnte. Diese Produktionsweise sollte - ganz im Sinne der Argumentation des Beitrags - eine "Best of both Worlds"-Erfahrung ermöglichen - das, was Retrocomputing eigentlich ausmacht. Vielleicht zieht in Zukunft ja doch noch einmal jemand diesen gedanklichen "Lochstreifen" aus der "Schublade", um ihn aufzugreifen, zu ergänzen oder zu kritisieren und das Ergebnis in einer neuen Ausgabe auf Diskette abzuspeichern.

Nachtrag: Auch das ist ein Novum digitaler Textproduktion: dass die Inhalte nicht irgendwann überholt sein müssen, sondern korrigiert und ergänzt werden können. So habe ich - Stand 30.04. - erfahren, dass es von der Digital Talk wohl auf jeden Fall noch mindestens eine weitere Ausgabe geben wird.

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