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Applaushungrig. Ist das ein Talent? Michaela Klante isst ihrem Mann Sebastian Schmidt Spaghetti vom Körper. Die Jury findet’s geschmacklos.

© RTL

Bohlen-Show: Porno war gestern

Der Chef-Juror allein kann's nicht sein: "Das Supertalent", inzwischen in der fünften Staffel, erzielt bei RTL immer neue Rekordquoten. Was aber macht die Show so enorm populär?

Von Maris Hubschmid

Keine Idee, die einmal erfolgreich war, geht jemals ganz verloren. Das ist ein altes Gesetz. Schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg erkannte der Altphilologe Wolfgang Riepl: Jedes Medium taucht in einem anderen wieder auf. „Das Supertalent“ bei RTL ist der moderne Zirkus. Dieter Bohlen ist der Zirkusdirektor. Gibt er die Manege frei, hält Deutschland den Atem an, wartet darauf, dass der Artist aus der Zirkuskuppel stürzt. Tut er das nicht, weil er seine Sache beherrscht, beherrscht er auch das Publikum: Es jubelt, erleichtert und frenetisch.

Vier Jahre ist es her, dass RTL mit dem „Supertalent“ auf Sendung ging. Was als dreiteilige Show von jeweils 75 Minuten startete, wurde von Staffel zu Staffel ausgedehnt. An jetzt 15 Abenden begutachtet die Jury, der neben Bohlen Moderatorin Sylvie van der Vaart und Sängerin Motsi Mabuse angehören, wieder Menschen mit tierischen Begabungen (den Mann mit der Entenstimme, Reiner Schleisick) und Tiere mit menschlichen Begabungen (das Basketball spielende Kapuzineräffchen Charlie). Weil die Einschaltquoten das zulassen: Waren es anfänglich noch etwas mehr als fünf Millionen, verfolgen die aktuelle Staffel im Durchschnitt bisher mehr als sieben Millionen Zuschauer. In der werberelevanten Zielgruppe zwischen 14 und 49 Jahren knackte der Sender damit die 40-Prozent-Marke.

Die Expertenmeinung

Stefan Höltgen erforscht an der Humboldt-Universität Berlin, wie Medien wirken. „Ein Reiz liegt darin, dass jeder mitmachen kann“, sagt er. „Deutschland sucht den Superstar“ und Heidi Klums „Topmodels“ hätten es vorgemacht, „als konsequente Verlängerung des Andy-Warhol-Gedankens, dass jedem Menschen 15 Minuten Ruhm gebühren“. Du musst bloß runter vom Sofa, dann kannst du sie dir abholen, suggerieren die Sendungen. Produktionsfirmen wie Grundy Light und Sender wie RTL haben das schon Ende der 90er Jahre zu ihrem Programmschema gemacht.

Den Siegeszug vergleicht Höltgen mit dem des Gonzo-Pornos: „Da wollte keiner mehr Erotikfilme mit Dramaturgie und Kostüm sehen, als man entdeckte, dass es den mit der Handkamera gedrehten Videoclip aus dem Schlafzimmer der Nachbarn gibt.“ Je durchschnittlicher die Protagonisten aussehen, desto besser: „Das ist authentisch. Das gibt dem Zuschauer ein Gefühl von Unmittelbarkeit, das ihn erregt.“

Sex spielt auch beim „Supertalent“ eine Rolle. Männer musizieren scheinbar mit ihren Penissen, Frauen im Englein-Outfit ziehen einander die Höschen aus, andere stöhnen ganze Gedichte. Auch wenn Sylvie van der Vaart erklärt, dass ein knackiger Hintern nicht als Talent begriffen werden kann, ist der Fantasie des Zuschauers ein Schub gegeben. „Die Frau, die da eben Wassermelonen mit ihren Brüsten zerquetscht hat, sah vielleicht nicht anders aus als die, die mir täglich in der Bahn begegnet“, sagt Höltgen. Solange ich es nicht besser weiß, kommt jeder für fast alles infrage. „Kunst und Kunstrezipient sind nicht länger zweierlei. Das Fernsehen wird vom Zuschauer selbst gemacht.“ Das ist Demokratisierung: Jeder darf alles, drückt sich aus, wo immer es geht. Im Internet und auf dem besten Samstagabend-Sendeplatz.

RTL der ehrlichste Sender?

Das kann man beklagen, weil es das Fernsehen profaner macht. Oder anerkennen, wie ein TV-Produzent, der nicht namentlich genannt werden will: „Im Gegensatz zu den Staatssendern mit ihrer tief verlogenen Moral aus der bürgerlichen Mitte haben die Privatsender immer einen ehrlichen Ansatz – sie zeigen den Schmuddelkindern Schmuddelkinder“, sagt er.

„Wenn man so will, ist das ja auch Dokumentarfernsehen“, sagt Medienforscher Stefan Höltgen. Das ein skurriles Deutschlandbild zeichnet. Gleichwohl: „Natürlich ist das eine Scheinwelt, die da aufgebaut wird.“ Es gibt Vorcaster. Etliche der Kandidaten sind professionelle Varieté-Künstler, die von einer Talentshow zur nächsten tingeln. Der plumpe Handyverkäufer Paul Potts mit dem schiefen Gebiss, der die Zuschauer beim britischen Äquivalent „Britain’s Got Talent“ mit einer Operette zu Tränen rührte, ist nicht die Regel.

Und die Amateure, die durchgelassen werden, bekommen ihre 15 Minuten allzu oft, damit sie das Risiko illustrieren: RTL schützt niemanden vor sich selbst. Es gibt zwei mögliche Ausgänge, es muss sie geben, für den Nervenkitzel. Die einen werden beklatscht, die anderen ausgebuht.

Daumen hoch, Daumen runter. „Brot und Spiele“ unseres Jahrtausends. Der Unterschied ist, dass die Teilnehmer sich freiwillig in die Arena begeben.

Und, dass es hier keine Löwen gibt, die den Verlierer fressen. Nur die Blamage, die vielleicht die Seele auffrisst.

„Das Supertalent“, 20 Uhr 15, RTL

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