Academia.eduAcademia.edu
Rudolf Thomas lnderst I Peter Just (Hrsg.) yLスmセ「@ Körperlichkeit in digitalen Spielen Fachverlag für Medientechnik und -Wirtschaft R. T. Inderst/P. Just (1--Irsg.): Build 'em Up- Shoot 'em Down Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://d-nb.de abrufbar. © Verlag Wcrncr 1--Iülsbusch, Glückstadt, 2013 V Wh Verlag Werner Hülsbusch I I Fachverlag für Medientechnik und -Wirtschaft www. vwh-verlag.de Einfache Nutzungsrechte liegen beim Verlag Werncr 1--Iülsbusch, Glückstadt Eine weitere Verwertung im Sinne des Urheberrechtsgesetzes ist nur mit Zustimmung der Autor/inn/en möglich. Markenerklärung: Die in diesem Werk wiedergegebenen Gebrauchsnamcn, Handelsnamen, Warenzeichen usw. können auch ohne besondere Kennzeichnung geschützte Marken sein und als solche den gesetzlichen Bestimmungen unterliegen. Korrektorat und Satz: Wemcr 1--Iülsbusch Umschlag: design ofmedia, Lüchow Druck und Bindung: Kunsthaus Schwanheide Printcd in Gcrmany ISBN: 978-3-86488-027-8 Stefan Höltgen 254 Stefan Höftgen Digitale Analogien Der Körper des Spielers am Gameport des Computers "Die Digitalisierung ist vielmehr ein Kurzschluss, der unter Umgehung alles Imaginären das Reale in seiner Kontingenz erstmals symbolischen Prozeduren az{/tut. " (Friedrich Kittler) Die Frage nach der Körperlichkeit in digitalen Spielen ist auf der Ebene der Plattform (vgl. Montfort & Bogost 2009: 147 f.) gestellt, eine Frage nach der Anschlussfähigkeit des Körpers an digitale Equipments und daher eine nach den Hardware- und Softwarebedingungen der Überwindung jener Grenzfläche (Interface) zwischen Körper und Maschine. Der menschliche Körper ist zum Computerspielen nicht geeignet; es braucht Hardware-"Erleichterungen", damit er trotzdem ins Spiel gebracht werden kann. Seit den allerersten elektronischen Spielen besteht in der Steuerung des Spielgeschehens eine besondere Herausforderung an Entwickler und Spieler - sei es nun die Ausrichtung der den Kathodenstrahl lenkenden Magneten im "Cathode Ray Tube Amusement Device" (1948), die für den/die Spieleraufgrund der schlechten Erreichbarkeit der Tasten "unfaire" Tasten-Steuerung des Raumschiffs in Spacewar I ( 1961) (vgl. Lu 2003) oder die nicht leicht einzuübende, simultane Bewegung gleich dreier Drehregler beim Spielen von Teletennis auf der Magnavox Odyssey (1972). Über Gewinn und Verlust des Spiels entscheidet nicht selten die Steuerung und sie leidet auch nicht selten darunter: "Failures in video games are often attributed to the controller for tailing to do what the player wanted to do. Countless controllers have suffered the fate of being martyrs as they are smashed or thrown due to player frustration" (ebd.). Aber auch die Hand als "Benutzerschnittstelle [... ],die Mensch und Computer verbindet" (Hoffstadt 2010: 537), 1 unterliegt in diesem Spiel nicht selten in doppelter Hinsicht den Anforderungen der Technik. In dem Maße, wie sie sich den zeitweise unergonomischen Eingabegeräten in ihren eigenen I Der Autor geht sogar soweit, die Hand als "Medium" zu definieren (ebd.: 552). Digitale Analogien 255 Bewegungsmöglichkeiten unterwerfen muss, wird sie beschädigt. hッヲNセエ。、@ berichtet von Maus-Ärmen und -Händen, "PlayStation-Daumen", "Blasenbildung, Kribbeln oder Taubheitsgefühle[n] am Daumen", "Nintendinitis", "Space-lnvaders-Handgelenk" und "sogar Wunden im Umgang mit den Game-Controllern" sowie einer grundsätzlichen "Überlastung des Handgelenks durch Joystick-Bewegungen" (ebd.: 439 f.). Es scheint also, dass etwas genuin Problematisches in der Konnektivität von menschlichem Körper und digitaler Computerspielhardware vorliegt. Analog/Digital Die Einschränkung "digital" wähle ich an dieser Stelle nicht nur mit Blick auf den Titel des Sammelbandes bewusst, sondern auch in Hinblick auf sein Gegenüber "analog". Es hat sich eingebürgert, von "digitalen Spielen" zu sprechen und zu schreiben, ohne das zentrale Epistem, von dem sich dieses Konzept unterscheidet, noch einmal explizit abzugrenzen. Diese Abgrenzung von analog und digital wäre allerdings auch nicht trivial, denn - wie sich zeigen wird - ist das Analoge im digitalen Computer immer schon da (gewesen) und zeigt sich insbesondere im Computerspiel deutlich. In den letzten Jahren ist eine regelrechte Renaissance des Analogen im Computerspiel zu verzeichnen. Dieser Trend blickt auf eine epistemologisch wichtige, Jahrzehnte alte Debatte zurück. Auf einer der von Claus Pias für den deutschen Buchmarkt dokumentierten "Macy"-Konferenz von 1950 wird die Frage nach dem Unterschied von Analog und Digital von verschiedenen Teilnehmern strittig diskutiert. Definitionsversuche gab es dabei etliche. So merkte beispielsweise der Neurophysiologe Ralph Gerard auf der Konferenz an: "[A]n analogical system is one in which one of two variables is continuous on the other, while in a digital system the variable is discontinuous and quantizied. The prolotype of the analogue is the slide rule, where a tu1mber is represented as a distance and there is continuity between grcater distance and grcater number. The digital system varies m1mber by integers, as in moving from three to four, and the change, however small, is discontinuous. Thc prolotype is the abacus, whcre the bead on one half of the wire is not counted at all, while that on the other half is counted as a full unit." (Germ·d 2003: 172) Die Tatsache, dass Gerard hier die Daten-Eingabetypologien und -technologien von Rechenschieber und Abakus als Beispiele nennt, zeigt bereits, dass die Dichotomie von Analog und Digital nicht leicht ohne den eingebenden Nutzer und seinen Umgang mit den Devices zu denken ist. lnso- 256 Stefan Höltgen fern kann zum Wesen des Analogen auch immer das "Analogische" gezählt werden -- die Ähnlichkeit zwischen einem (physikalischen, biologischen, ... ) System und seiner Repräsentation im Medium. Ein Beispiel aus dem Alltag: Die Menge an Bier, die in einem Zeitraum in ein Glas fließt, wird durch das Aufdrehen des Zapftlahns mit der Hand gesteuert. Es besteht eine physikalische Beziehung2 zwischen der Hand-Bewegung und der Biermenge im Glas. Die "Ordnung der kontinuierlichen Skala [... ] verhält sich in diesem Sinne analogisch" (Pflüger 2005: 52). Im Gegenzug dazu ist das Verhältnis der Perlen beim Abakus zu den damit gezählten Objekten arbiträr. Die Perlen sind lediglich ein Symbol für diese Objekte oder Platzhalter für eine Zahl. Die Qualität (Geschwindigkeit, Kraft, Dauer, Richtung ... ) der Handbewegung, die sie von einer auf die andere Seite des Abacus befördert, ist dabei unwichtig; entscheidend ist allein der Ursprung und das Ziel also ihre Ruhepositionen. Die Perlen stehen in keinem anderen notwendigen (etwa physikalischen) Zusammenhang mit diesen. Daraus erwächst aber zugleich ihre Stärke, die man sich zunutze macht: "Wegen ihres stetigen Verlaufs sind analoge Repräsentationen stärker an die ,Proportion' des Trägermediums gebunden als arbiträre digitale Kodierungen, die keiner vorgegebenen Zusammenhangsbedingung genügen müssen. Deshalb sind digitale Zeichen einfach in andere Formate umkodierbar und können unterschiedliche Inhalte annehmen" (ebd.: 51). An den Perlen zeigt sich aber noch eine weitere Eigenart des Digitalen: Im Gegensatz zum analogen Messen (measuring) ist das digitale Zählen (counting) diskret in einzelne Schritte zerlegbar. Das bekannteste Beispiel für solch einen diskreten Zähler ist der Digitalcomputer, der- wie es so oft heißt 2 Diese lässt sieh über eine mathematische (trigonometrische) Funktion mit dem Winkel des Bierhahns und dem Volumen des einlaufenden Biers pro Zeit darstellen. Je nachdem, wie schnell man den Bierhahn öffnet, füllt sich das Bierglas auch schneller. Drehungsgeschwindigkeit und -winke! des Handgelenks und die Arbeit (Kraft mal Weg) der Muskulatur verhalten sich dabei zur Winkelfunktion analogisch. Das zeigt bereits, dass wir es bei analoger Technik sehr oft mit Zeit-Funktionen zu tun haben, bei denen Variablen wie Geschwindigkeit und Beschleunigung berücksichtigt werden (können). Der Analogcomputer, der von den 1940er- bis in die 1970er-Jahren ein wichtige Rolle neben dem Digitalcomputer innehatte, weil er einfach "schneller" war, indem er mit Spannungsverläufen anstaU mit diskreten Werten rechnete, operiert sogar ausschließlich mit zeitgebundenen Variablen. Er wurde zumeist für Aufgaben der Integral- und Differentialrechung eingesetzt, bei denen dy/dt abgeleitet und integriert wurden etwa Parabelflugbahnen für Flugzeugabfang-Raketen und Tennisbälle (Tennisfor Two ). r Digitale Analogien 257 -"nur Null und Eins kennt". Alles, was er ausrechnen kann, berechnet er mit diesen beiden diskreten Werten bzw. Schaltzuständen. Er speichert aber durchaus keine Ziffern, sondern Spannungspotenziale (vgl. Coy 2005: 22) (in den miniaturisierten Kondensatoren seiner RAM-Bausteine). Was sich zwischen keine Spannung ("Null") und volle Spannung ("Eins") abspielt - also die unendliche Menge an reellen Zahlen, die sich durch die KondensatorEntladung als Spannungsabfall ergibt -, spielt für ihn keine Rolle. Er beachtet lediglich die jeweiligen Spitzen einer Spannung und schaltet deren Wert gemäß einen transistorisierten Schalter. Jener kontinuierliche Zwischenraum an Spannungszuständen, der beim Schalten entsteht, 3 wird ignoriert und nicht selten sogar (etwa bei Entprell-Mechanismen von Tastern und Schaltern) nachträglich ausgefiltert. Jörg Pflüger hat in seinem Beitrag "Wo Qualität in Quantität umschlägt" (Pflüger 2005) die Diskussionen der siebten Macy-Konferenz zusammengefasst und auf den Punkt gebracht. Für meine nachfolgenden Überlegungen zu Spiel-Eingabemedien sind seine Aussagen über die prinzipielle Ununterscheidbarkeit von Analog und Digital zentral. Denn wie man sich angesichts obiger Beispiele bereits denken kann, ist es lediglich eine Frage der Perspektive auf bzw. Annäherung an das jeweilige System, ob man es als digital oder analog einstuft. So erweist sich die analoge Papier-Fotografie unter dem Mikroskop als "gepixelt" aus einzelnen lichtempfindlichen Elementen und das Digitalfoto auf einem nachleuchtenden Bildschirm und aus Distanz beobachtet als Bild mit kontinuierlichen Farb- und Lichtübergängen. Dieser Gestalt-Effekt zeigt sich auch bei anderen digitalen Medien und wird beispielsweise bei der Digitalisierung eines analogen Signals auch sinnvoll ausgenutzt, "indem man es an verschiedenen Punkten abtastet; liegen diese Abtastpunkte dicht genug nebeneinander, lässt sich daraus eine scheinbar perfekte Kopie erstellen, sodass unser Ohr beispielsweise nicht mehr eine Aneinanderreihung getrennter Klänge, sondern einen durchgehenden Ton wahrnimmt" (Ernst 2004: 61). Es zeigt sich, dass Digitales und Analoges nicht nur ineinander überführbar sind, sondern von der Betrachterperspektive aus gesehen oft sowieso ineinanderlaufen und nicht beliebig genau voneinander unterscheidbar sind. 3 Wie Pflüger schreibt, "ist ein Zustandswechsel in Wirklichkeit kein instantaner Schaltvorgang, sondern wird durch einen Spannungsanstieg oder -abfall mit einer sehr steilen Flanke erzielt" (Pflüger 2005: 41). 258 Stefan Höltgen Jörg Pflüger schlägt vor, diese Problematik in technischen Medien auf drei Ebenen zu untersuchen: "Praktisch läßt sich in technischen Medien Digitales und Analoges oft nicht trennen, streng genommen kommt immer beides vor. Auch ,rein' analoge Geräte weisen diskrete Elemente auf, die unterschiedliche Zustände ansprechen, und die Funktion von digitalen Maschinen wird durch kontinuierliche ,Randbedingungen' beeinflußt. [... ] [A]uf der Ebene der Nutzung [kann] ein User-Interface ebenso analoge wie digitale Bedienelemente enthalten. Eine Betrachtung von technischen Medien, die die Benutzer und ihre Aktionsmöglichkeiten nicht einbezieht, geht an der Funktion eines Mediums vorbei und ignoriert, daß die Unterscheidung von analog und digital nur im Hinblick auf eine Anwendung und einen Anwender Sinn macht." (Pflüger 2005: 71 f.) Gerade die zuerst im Zitat erwähnten Vermischungen von Analogem und Digitalem spielen in der Computerhardware und insbesondere bei der zuletzt angesprochenen Eingabe-Peripherie eine besondere Rolle. So gibt es eine Vielzahl analoger Devices für Digitalcomputer, deren kontinuierliche Signale von diesem zeitverzögert durch einen sogenannten A/D-Wandler in diskrete Werte umgewandelt werden müssen. Players & Missiles, Sticks & Balls Viele Eingabegeräte für Computer- seien sie nun analog oder digital- sind zuerst nicht flir Computer(spiele) erfunden worden. Im weiteren Fortgang möchte ich mich vor allem mit zweien von ihnen beschäftigen: dem Joystick und dem TrackbalL Ersterer geht wahrscheinlich auf einen Steuerknüppel in Flugzeugen des Ersten Weltkrieges zurück. Tom Zeller schreibt in der New York Times zur ersten Erwähnung des Begriffs: Er tauchte auf im "diary of the British actor and aviator Robert Loraine. In 1910, he made this entry: 'In order that he not blunder inadvertently into the air, the central Iever - otherwise the cloche, or joy-stick is tied weil forward"' (Zeller 2005). Und auch der heute nicht mehr so häufig verwendete Trackball hat eine kriegerische Geschichte: Er diente dem "Digital Automated Tracking and Remoting" einem System zur Überwachung und Fernsteuerung von Flottenbewegungen zu Beginn des Kalten Krieges. Dieses "DATAR"-System (vgl. Wardalas 1994) sammelte Sonar- und Radar-Daten von Kampf- und Flottenverbänden, wertete sie zentral aus und übertrug sie zurück an die Absender, die damit über stets aktualisierte Karten mit Feind-/Freund-Bewegungen verfügten und den dadurch erzielten totalen Überblick einen Vorteil erhielten. Digitale Analogien 259 Der Trackball (s. Abb. I) diente dabei als zeitsparendes Eingabegerät, mit dem am DATAR-Computer punktgenau Orte auf der Karte angesteuert werden konnten. Abb. 1 Trackball des DATAR-Computers, in der Mitte ist die umfunktionierte Bowling-Kugel gut an ihrer kunstvollen Maserung zu erkennen. Umrahmt ist sie von vier Inkrementalgebern. Quelle: http://www.ieeeghn.org/wiki/index.php/File:DATARTrackball.jpg (31.03.2012) Digitaler Joystick und analoger Trackball stellen Eingabemedien dar, mit denen Koordinaten-Werte in den Computer eingegeben werden können. Beim Joystick kann durch Bewegung des Hebels (und damit Auslösung von Kontakten im Fußteil des Joystick) über die X- und Y-Achsen ein Koordinatenpunkt zweidimensional angesteuert werden; mit dem Trackball lässt sich wie mit der heutigen Maus, die sein direkter Nachfahre ist eine Richtungsbewegung ebenfalls über zwei Flächenkoordinaten übergeben. Den analogen Trackball unterscheidet jedoch vom digitalen Joystick, dass man mit ihm kontinuierliche Eingaben tätigt, die erst über Inkrementalgeher mit kleinen Lichtsensoren in diskrete Impulse umgewandelt werden müssen. Damit steht ihm gegenüber der reinen digitalen Steuerungsfunktion auch die Möglichkeit offen, Weg, Geschwindigkeit und Richtung der Bewegung über die Berechnung von Impulszahl und impulsfrequenz gleichzeitig zu erfassen. (vgl. Moore 2009). Trackballs bieten aber nicht immer (nur) analoge und Joysticks nicht immer (nur) digitale Eingabemöglichkeiten. Der ebenfalls existente analoge Joystick, wie er bei frühen Apple-Computern und PCs häufig zur Anwendung kam, übergibt zusätzlich die Neigungswerte in X- 260 Stefan Hältgen und Y-Richtung als Widerstandswerte vermittels eines Trimmpotentiometers, welche dann zumeist in 256- unterschiedliche diskrete Digital-Werte kodiert werden. 4 Der Trak-Ball C'X-22, von DanKramerund Levon Mitchell für Atari 1982 konstruiert und am 6. Januar 1983 auf den Markt gebracht, 5 lässt sich vom analogen in den digitalen Modus schalten (s.u.) In der Geschichte der Spiel-Eingabemedien haben sich analoge und digitale Devices nebeneinander entwickelt. Winnie Forsters und Stephan Freundorfers materialreiche "illustrierte Geschichte der Game-Controller 1972-2004" zählt etliche von ihnen auf. Die Autoren differenzieren die Geräte je nach ihrer Usability: Für feinabgestimmte Eingaben seien analoge, für actionreiche Spiele digitale Controller besser geeignet (vgl. Forster & Freundorfer 2003: 5). Historisch bildet das physiknahe Spielen mit analogen Eingabegeräten die früheste Form der Spielsteuerung. So weisen etwa FongAutomaten Mitte der 1970er-Jahre von Atari Drehregler auf/' mit denen die Spieler ihre Schläger auf dem Bildschirm und ab bewegen können. Kurz darauf kommen mit den Pong-Clones 7 auch Schieberegler zum Einsatz, die 4 Zur Hilfe kommt dabei ein Kondensator, der über den am Joystick erzeugten Widerstand mit einer Spannung geladen wird. Je nach Höhe der Spannung dauert dieser Ladevorgang länger und erfolgt die Entladung des Kondensators, die schließlich den SteuerImpuls an den Prozessor übermittelt, später. Dasselbe Prinzip kommt in Paddles (Drehreglern), wie sie z. B. an Atari-Spiclkonsolen üblich waren, zum Einsatz. Dieser technische Hintergrund zeigt nicht nur einmal mehr, dass im Digitalcomputer analoge Elemente arbeiten (beim Commodore 64 werden beispielsweise die Analog-Bauteile im Soundchip SID für die Auswertung der Paddle-Spannung benutzt), sondern auch die nahe Verwandtschaft zum Analogcomputer, der ebenfalls Kondensatoren benutzt, um seine zeitabhängigen Funktionswerte (Spannungen!) zu generieren. 5 Es gab eine Reihe unterschiedlich designter Trackballs von Atari mit identischen Bezeichnungen. Das Modell CX-80, das ich für das nachfolgende Experiment verwende, erschien 1984 und war funktionsidentisch und äußerlich baugleich zum CX-22- bis auf die Tatsache, dass die Trigger größer, stabiler und näher an der Kugel angeordnet waren, weil diejenigen vom CX-22 durch allzu kräftiges Benutzen in Spielen leicht abbzw. einbrachen. Beide Modelle sind Ergebnis einer aufwändigen Konzeptstudie von Atari, deren Versuche verschiedene Ergonomicn und Designs enthielten. Vgl. Atarimuseum (o.J.) 6 Für Forster und Freundorfcr "stehen Ataris erste Jahre im Zeichen des Potenziometers" (ebd.: 12.) 7 Atari baut mit Pong 1972 das Te/etennis-Spiel aus Magnavox' Odyssey-Konsolc als volldigitales Computerspiel nach. I 976 entsteht bei General Instruments der Chip A Y-3- Digitale Analogien 261 sich zur Auf- und Ab-Bewegung des Schlägers noch analogischer verhalten. Angesichts der Tatsache, dass daneben frühe Arcade-Erfolgsspiele wie Football ( 1978) mit Trackball gesteuert wurden, beginnt die kommerzielle Geschichte des Computer- und Videospiels also mit Analog-Eingaben. Mit/ durch Football wurde den Spielern erstmals Computerspiel-Verletzungen zugefügt: "[F]ew games have injured so many players. lt was housed in a waist-high tabletop cabinet. Players stood beside the cabinet, punding the trackball as hard as they could. On offense, players slapped the trackball to control their quarterback and make their recievers run. To build speed and to maneuver, players hat to spin the trackball as quickly as possible. All over the Country, people developed blisters on their hands" (Kent 2001: 118). Diese Verletzungen rührten allerdings nicht wie später beim DigitalJoystick von einem untypischen Bewegungsablauf her, sondern waren eine Nebenwirkung der Beschleunigung der Kugel, welche den Reibungswiderstand zwischen Haut und Ball so weit erhöhte, dass dabei Hitze entstand. Auch der Trak-Ball CX-80 greift diese Tradition auf und weckt bei Forster und Freundorfer "nicht nur nostalgische, sondern auch schmerzhafte Gefühle" (Fm·ster & Freundorfer 2003: 11 ). Im Unterschied zu seinen Vorgängern verfügt er über einen Wahlschalter "JS/TB" (s. Abb. 2), bei dem man die Steuerung in Joystick- und Trackball-Modus umschalten kann. In ersterem verhält er sich wie ein in dieselbe Richtung gedrückter Steuerhebel und liefert so lange stetige Impulse, bis die Ballbewegung endet; im "TB"-Modus bekommt er jedoch seine vollwertige analoge Funktion zurück: "Bei dieser Einstellung bewegt sich ihr Spieler mit einer Geschwindigkeit, die proportional zu der des Steuerungsballes ist" 8 , heißt es im Handbuch des CX-80. Im TB-Modus ist der Trackball also in der Lage, die Geschwindigkeit(sänderung) als eigenes Signal mit zu übertragen, sodass er auch für Spiele wie Missile Command (1980) genutzt werden kann (vgl. Kent 2001: 139), bei denen es darauf ankommt, die Abwehr-Markierung auf dem Bildschirm möglichst "rasch und millimetergenau" (Forster & Freundorfer 2003: 35) zu den anfliegenden Atomraketen zu bewegen. 8500, der in einer integrierten Schaltung die "Ball & Paddle"-Spiele enthält und in zahl- reiche zu Hause nutzbare Pong-Clones eingebaut wird. 8 "Der analoge Signalbegriff bringt Zeit als Parameter von Übertragungsprozessen ins Spiel" (Ernst 2004: 55 -eigene Hervorhebung). 262 Stefan Höltgen Abb. 2 Atari Trak-Ball CX-80 aus der Sammlung des Autors. An der Stimseite Geräts sieht man den JS/TB-Umschalter. Quelle: Stefan Höltgen Zeit ins Spiel gebracht: Beschleunigen und Bremsen Insbesondere in Sportspielen ist Zeit oft der entscheidende Faktor und muss deshalb auf digitalem oder analogem Umweg durch die Steuerung ins Spiel gebracht werden. Frühe Spottspiele - wie das erwähnte Football von Atari, aber vor allem die auf Homecomputer verbreiteten Titel Decathlon (1983), Track and Fie!d (1983), Summer Games (1984) und andere- verlangen vom Spieler seltener Präzision als Geschwindigkeit im Umgang mit dem Controller. Diese sogenannten "Rüttelspiele" basieren auf einer möglichst starken Verkürzung der Schaltzeit zwischen zwei Impulsen des Controllers. So muss bei Decathlon (s. Abb. 3) beispielsweise der Joystick abwechselnd nach links und rechts bewegt werden. Dabei werden drei Signale an den Computer übermittelt: Stick links, Stick in Mittelstellung, und Stick rechts. Je schneller sich diese drei Schaltzustände abwechseln und die drei Schaltimpulse am Gameport ankommen, desto größer ist die Geschwindigkeit der Spielfigur. Im Prinzip beschleunigt der Spieler hier also die eigene Spielfigur durch die mit seiner Muskulatur erzeugte Bewegung; nur, dass diese an den Joystick abgegebene Bewegung sich nicht direkt analogisch zur Bewegung der Spielfigur verhält, denn die es ist nicht die Bewegungsgeschwindigkeit der rüttelnden Hand, sondern die Dauer zwischen den diskreten Links/Mitte/ Digitale Analogien 263 Rechts-Schaltzuständen, aus der die Figurengeschwindigkeit ermittelt wird. "Der Spieler erscheint an dieser Systemstelle als rückgekoppeltes device oder zweites Programm, dessen Outputs zeitkritisch abgefragt werden" (Pias 2010: 12), konstatiert C1aus Pias über Actionspiele, zu denen sich Decathlon in dieser Hinsicht voll zählen lässt. Abb. 3 Screenshot des Spiels Decathlon (Atari XL- Version) - hier der I 00-m-Lauf. Quelle: Stefan Höltgen Diese Art der diskretisierten, also aufs Schalten reduzierten und ständig abrupt gebremsten Hand- und Arm-Bewegung, sowie die durch die Anstrengung nicht selten auftretende verkrampfte Körperhaltung 9 sorgten kurz nach Erscheinen des Spiels bei notorischen Decathlon-Spielern sehr schnell für körperliche Schäden. Einmal davon abgesehen, dass zur Geschwindigkeits- 9 1985 erschien mit dem Computerspiel Sex Games für den Commodore 64 eine Persiflage auf diese Rüttelspiele, die insbesondere die Körperhaltung der Rüttel-Spieler aufs Korn nahm. Man steuerte bei Sex Games einen Geschlechtsakt und musste dafür sportlich-schnell am Joystick rütteln. Wurde dieser zwischen die Knie geklemmt, sah der Spieler beim Spielen/Rütteln von hinten wie ein Masturbator aus. - Ygl. Höltgen (2012). 264 Stefan lföltgen Steigerung abgesägte 1oystick-Hebel 10 die Haut der Handinnenflächen verletzten, verursachte die ungewohnte, ruckartige und kräftige Bewegung des Unterarms bei gleichzeitiger Versteifung des Handgelenks Belastungserscheinungen in der Handwurzel, die im schlimmsten Fall in SehnenscheidenEntzündungen und Karpaltunnel-Syndrome (vgl. Gonzales 2011) münden konnten. Nimmt man es mit dem sportlichen Ehrgeiz allerdings nicht so genau, kann man Decathlon wie auch andere Spiele überlisten und sogar unbeschadet meistern. Im Folgenden soll beim Regelbruch dieser Spiele jedoch weniger der Betrug an sich im Zentrum stehen, als vielmehr die Frage, wie die "Hybridisierung" des Digitalcomputerspiels Decathlon durch Nutzung analoger Technologien vor dem Hintergrund von Ergonomie und "re-entry" des Analogen ins Digitalspiel zu bewerten ist. Zum einen gibt es natürlich immer Trainer-Versionen, die die Software so manipulieren, dass beispielsweise die Eingabe mit dem Joystick die vielfache Wirkung zeigt, man diesen also ganz gemächlich bewegen kann und allen Gegnern trotzdem davonläuft. Andere Trainer sorgen daflir, dass eine einmal erreichte/errüttelte Geschwindigkeit nicht wieder abnimmt, sodass man sich nach einer kurzen Höchstleistung entspannt zurücklehnen kann, um der Spielfigur beim Gewinnen zuzusehen. Besonders angenehm ist solch ein Cheat beim virtuellen 1500-Meter-Dauerlauf; bei Disziplinen, in denen noch ein Trigger-Event ausgelöst werden muss (Hürdenlauf, Stabhochsprung, Weitsprung, Kugelstoßen, Speerwurf und Hochsprung) verhelfen diese Trainer allerdings lediglich zu einer Verringerung der Bewegungskomplexität Ein anderes, teilweise analoges Betrugsinstrument stellt die sogenannte "Bremse" dar. Sie existiert für den Commodore 64 und wird in dessen Expansions-Port gesteckt. Dieser bietet eine Anzahl nach außen geführter Platinen-Leitungen an, von denen eine an den Interrupt-Kontakt des Prozessors führt. Ein Signal, an diese Leitung angelegt, löst ein Interrupt-Request (IRQ) aus und bringt den Prozessor dazu, alle Aufgaben, um die er sich derzeit kümmert, flir einen oder mehrere Taktzyklen zu unterbrechen. IRQs werden normalerweise dafür benötigt, Operationen (augenscheinlich) zeitgleich ausI 0 Überhaupt litten Joysticks sehr unter solchen auch als "Joystick-Killer" bekannten Spielen (vgl. Forster & Freundorfer 2003: I I). Geschützt wurden allenfalls die Spielerhände: So brachte Atari, allerdings wohl eher als Marketing-Gag, einen "Deeathlon Game Glove" auf den Markt: http://www.atarimania.eom/goodies/hi_res/decathlon_game_glove.jpg (3 I .03.20 12) Digitale Analogien 265 zuführen. Beim IRQ wird eine Aktion kurz unterbrochen, eine andere durchgeführt und danach wieder zur ursprünglichen zurückgekehrt. Das "Bremse"Modul gibt nun solche Interrupt-Signale ab und beschäftigt den Prozessor mit Warten. Im Inneren des Moduls wirkt der kleine Timer-Chip NE555 11 , bei dem mit einem nach außen geführten Drehregler stufenlos eingestellt werden kann, wie viele Impulse er in einem Zeitraum an die IRQ-Leitung der CPU abgibt. Mit der "Bremse" kann man das ganze Spiel ausbremsen ohne es zum Absturz zu bringen, weil man lediglich die interne Zeitverarbeitung des Prozessors regelt. Insbesondere für Action-Spiele, bei denen man als Spieler schnell den Überblick über die Situation verlieren kann, ist dieses Device hilfreich; bei Spielen wie Decathlon nützt es jedoch nichts, weil es nicht nur die gegnerische, sondern auch die eigene Figur bremst und damit keinen "Zeitvorteil" bringt. Kugelstoßen - analoge Signale am digitalen Organ Ein Zeitvorteil kommt allerdings durch Ataris CX-80 im TB-Modus ins Spiel: Schließt man ihn nach Spielstart am Gameport des Computers an und gibt der Kugel (die ja schon im DAT AR-System ein umgewidmetes SportInstrument war) 12 eine stetige Bewegung, so katapultiert dies die Geschwindigkeit der Spielfigur sofort auf ein Maximum. Die Erklärung für dieses Verhalten liegt in der analogen Technologie und ihrer digitalen Konvertierung im TrackbalL Der CX-80 erzeugt im TB-Modus neben den Signalen für die Richtungen an den Pins 1 und 2 auch noch die Signale für Geschwindigkeit und Weg an Pin 3 und 4 (als Horizontal-Quadratur/BQ- und Vertikal-Quadratur/VQ-Impulse). Die Pins 3 und 4 sind diejenigen, über die beim digitalen Joystick das Signal ftir Links- und Rechtsbewegung anliegt (s. Abb. 4). II Die Firma Signeties veröffentlichte den NE555 im Jahre 1971. Der Chip "kannibalisierte" die zuvor von der Firma produzierten Analog-Timer, die mithilfe von Operationsverstärkern und Komparatoren realisiert wurden. Er ist damit ein sehr früher digitaler Nachfahre der Analogtechnologie und zugleich deren funktioneller Erbe. 12 "The device, invented by Tom Sranston and Fred Gongslaff sometime in early 1952, used a bowling ball from the Canadian game of five-pin bowling (smaller than the American 10-pin ball). The air bearings were developed by Kenyon Taylor ofFerranti Packard." (Wardalas 1994: 23) 266 Stefan Höltgen 6 9 9 PIN D-SUB MALE at the computer. 9 6 9 PIN D-SUB FE MALE at the mouseljoy cable. Lightpan Pln Mause/Trackball セKUv@ Digital Joystick セ@ Paddle Comment 1 V-pulse n/e /FORWARD butonSセ@ 2 H-pulse nie /BACK nie 3 VQ-pulse nie ILEFT BUTTON 1 IN 4 HO-pulse nie /RIGHT EJUTTON 2 IN nie 5 BUTTON 3(M) Panpress 6 BUTTON 1(L) /Eleamtrigger /BUTTON 1 r .GNO BUTTON 2(R) セKUv@ PotX INIOUT nlc IN/OUT 1+5V IGNO BUTTON 2 !BUTTON 2 IN F セUPュa@ IGNO PotY I IN/OUT Notes Diraction is Computer relative Oevice. Potisalinear 470 kOhm (:t1 0 %) Abb. 4 Schematische Darstellung des SUB-9-Ports und -Steckers mit einer Tabelle, in der die Pin-Selegungen für verschiedene Controller-Typen kodiert sind. Quelle: http://www.allpinouts.org/index.php/Mouse/Joystick_Amiga_9_pin (31.03.20 12) Laufen dort nun die VQ- und HQ-Werte auf, entsteht ein regelrechtes Chaos bei der Interpretation dieser Werte (s. Abb. 5). Der vom Digitalcomputerspiel ins Diskrete der Links-Rechts-Schaltung gezwungene Spieler befreit sich mittels Analog-Technik regelrecht aus dem Bewegungsjoch. Und es scheint beinahe so, als sei die "Transitzone" (Pflüger 2005: 43) zwischen zwei Schaltzuständen (0/1 bzw. Links/Rechts) als eine Art Rauschen wieder sichtbar geworden, das durch die zeitlich exakt getaktete Konzentration auf die Extremwerte im Digitalschaltprozess eigentlich unterdrückt werden soll: "Durch die Beschränkung auf diskrete, stabile Zustände wird das Rauschen des Kontinuums kontrollierbarer und die Unschärfe von Werten vermieden. Wenn die zu bewertenden Intervalle hinreichend separiert sind, können geringfiigige Schwankungen oder Verluste ausgeglichen und die durch die ,region of attraction' verkörperten Originalzustände des digitalen Organs wiederhergestellt werden" ( ebd.). Digitale Analogien Abb. 5 Diagramm einer siebensekündigeri Port-Abfrage während der Nutzung eines Digitaljoysticks (oben: stetiges Links-Rechts-Rütteln) und eines CX-80 (unten: stetiges Rollen des Balls nach rechts) am Commodore 64. Programmiert in Sirnon 's BASIC - der Wert 3 steht für die Links-, der Wert 7 für die Rechtsbewegung und der Wert 0 für die Mittelstellung des Joysticks. Quelle: Stefan Hältgen 267 268 Stefan Höltgen Nun haben wir es im Computer und bei der Auswertung durch die Software jedoch nicht mehr mit kontinuierlichen Trackball-Bewegungen, sondern mit diskretisierten Werten aus dem DIA-Wandler zu tun, wenngleich sich in Decathlon aus ihnen die genaue Bewegung des Trackballs nicht mehr ablesen lässt. Sie ist "diskret verrauscht" dadurch, dass sich das zusätzliche Geschwindigkeitssignal am Gameport als zeitliche Unschärfe zwischen den einzelnen Signalen (ähnlich dem Symbolübersprechen) und damit als Ungenauigkeit in die Signalübertragung eingeschlichen hat. Speist man dieses SignalWinwan nun in das Spiel Decathlon ein, so interpretiert die Software den Wechsel der diskreten Werte und leitet daraus Hin- und Her-Bewegungen ab. Vergleicht man die Änderungen beim Joystick-Rütteln mit den Werten, die beim Trackball-Drehen im Computer ankommen, so zeigt sich ein verblüffendes Ergebnis: Innerhalb von sieben Sekunden werden durch den Joystick 77 Impulse als Eingabewerte vom Rechner angenommen. Beim CX-80 im TB-Modus sind es im seihen Zeitraum allerdings nur knapp 30. Wieso beschleunigt die Spielfigur in Decathlon dennoch mit dem Trackball stärker? Ich vermute 13 die Ursache ebenfalls im Code des Spiels. Dieses wertet, spielt man es mit dem Joystick, lediglich die Rechts-Mitte-Links-Positionen zur Beschleunigung der Spielfigur aus. Decathlon wurde nicht dafür programmiert, dass man es mit einem Trackball spielt. Die zusätzlichen Signale an den Pins 3 und 4 in Verbindung mit dem chaotisch Hackernden Nullstellungs-Signal wird durch die Software wahrscheinlich als extremes "Rütteln" intetpretiert. Diese "falsche" Interpretation führt dann zu einem richtigen Ergebnis, denn auf diese Weise kommen die analogen Beschleunigungsimpulse der Ballbewegung zur Geltung und Auswertung: "Decathlon" erscheint mit dem Trackball gespielt- als ein analoges Spiel. Du bist der Controller: Ubiquitous Joysticks und Tangihle User Interfaces In dem Moment, wo das Computerspiel Decathlon mit den Signalen eines analogen Eingabegerätes gespeist wird, ist es aus "digitalspielerischer" Sicht dysfunktional. Ein alternatives Verständnis dessen, was ich soeben beschrie- 13 Zur Zeit der Niederschrift dieses Beitrags bin ich leider noch nicht eines Disassemblats oder gar des Sourcecodes von Decathlon habhaft geworden, sodass ich diese Vermutung nicht mit einem Code-Argument prüfen kann. Digitale Analogien 269 ben habe, geht jedoch weniger von der Konstitution des Programms als von der des Spielers aus. Die Bewegungen, die er mit dem Joystick absolvieren muss, um Decathlon gut zu spielen, strapazieren seine Physis. Wie leicht fallt da hingegen die Trackbali-Steuerung! Dabei kommt zum Wertechaos durch das "diskrete Rauschen" hinzu, dass der Trackball als analoges Medium die Möglichkeit bietet, den eigentlichen Bewegungsablauf der Spielfiguren analogisiert nachzuvollziehen: Man bewegt den Ball in die Richtung, in die die Figur laufen soll und die Beschleunigung des Balles (also die Erhöhung seiner Rotationsgeschwindigkeit) verursacht auch eine Beschleunigung der Figur. Der Zusammenhang dieser Bewegungen lässt sich als Zeitfunktionen darstellen: Der Umlauf des Balles lässt im Inneren des Trackballs das Zahnrad rotieren, welches die Lichtschranke sperrt und freigibt. Neben dem reinen Impuls wird auch übertragen, wie oft der jeweilige Lichtsensor in einem Zeitraum geschaltet hat - das ist dann die übertragene Geschwindigkeit(sänderung). Damit erfüllt der CX-80 Bedingungen, die erst in jüngster Zeit (wieder) an Eingabemedien für Computer gestellt werden: Heute sind sie es, die sich als "Tangible User Interfaces" (TUI) dem Körper anzupassen haben, nicht umgekehrt, und sie sollen dies nach Möglichkeit so tun, dass sie als Medien gar nicht mehr wahrgenommen werden: "Die Bedienung von Computertechnologie soll vom Menschen seinen Fähigkeiten, Sinnen und Bedürfnissen ausgehen. [ ... ] Wenn dies gelingt, so werden User Interfaces als , unsichtbar' und angenehm empfunden, [ ... ] d. h. die Benutzung von Computersystemen sollte ohne Mühe verständlich und möglich sein. [ ... ] Die Wahl der geeigneten Materialen [fiir das Interface, S.H.] steht in engem Zusammenhang mit der Wahl entsprechender Sensoren und Aktuatoren. [ ... ] das Material verkörpert die Daten. Sensoren und Aktnatoren ermöglichen diese Verknüpfung. [ ... TUis befinden sich] genau im Spektrum der realitätsbasierten Interaktion, ihr Potenzial besteht in ihrem starken Bezug auf die Gesetzmäßigkeiten der realen Welt, unseren Erfahrungen und Fähigkeiten, mit ihr umzugehen einerseits und der gleichzeitigen Integration in digitale Welten und den Leistungsumfang des Computers andererseits." (Döring/Sylvester/Schmidt 2012: 117-119) Hinter diesen Forderungen steht das aus Anfang der 1990er-Jahre stammende Konzept des "Ubiquitous Computing" (Weiser 1991), nach welchem Computeranwendung durch angepasste Hardware, Schnittstellen und Software als solche unbewusst werden soll. Während die PC-Industrie diesem Konzept vor allem mit grafischen Nutzeroberflächen entgegenkommt, sind die Computerspiele bereits weiter. Mobile Gaming-Plattfonnen, die nicht nur in der 270 Stefan Höltgen Hosentasche "verschwinden" können, sondern durch gesten- und berührungssensitive Steuerung überhaupt vergessen machen, dass wir es mit einem Computer und seinem technischen lnput-Device zu tun haben, drängen zunächst auf den Telefon-, mit der PS Vita aber auch auf den Handheldkonsolen-Markt Bewegungsempfindliche Steuerungen an Nintendos Wii-Konsole, Sonys PlayStation 3 und als völlig "ungebundene" Kinect-Steuerung an der XBox 360 von Microsoft erfreuen sich immer größerer Beliebtheit und reizen die Software-Produzenten zu neuartigen Spielkonzepten, die weit mehr als nur die Hand des Gamers in ihre Spiele einbeziehen. Aber auch dieser Trend ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Derartige Controller gab es bereits in den frühen 1980er-Jahren, 14 bewegungs- und gestensensitive Eingabemöglichkeiten hatten Matte! mit dem Power Glove und Broderbund mit V-Force schon 1989 für Nintendos NES-Konsole (vgl. Fm·ster & Freundorfer 2003: 58 f.) auf dem Markt. 15 Damalige Computer und Konsolen besaßen allerdings noch nicht die Verarbeitungsgeschwindigkeit, 16 um solche Eingabemedien adäquat und dauerhaft sinnvoll einsetzen zu können; sie blieben Epiphänomene auf dem Joystick-Markt. Heutige Spielkonsolen und -computer verfügt oft über die neueste und schnellste Hardware. 17 Dadurch ist es auch möglich, analoge Eingabe-Medien gewinnbringend einzusetzen. Und durch die Gestensteuerung der neuen Generation von "ubiquitous gaming" wird die Hand vom reinen EingabeBediener zum Sinn-Erzeuger. Die Gestik in all ihrer Vielfalt (von der ikonischen über die indexikalische bis zur symbolischen Ebene) (vgl. Hoffstadt 14 Zu nennen wäre etwa Le Stick von DataSoft, der mit Quecksilber-Schaltern ausgestattet war, die eine freihändige Steuerung ermöglichten und bei Neigung des Sticks schalteten (vgl. F01·ster & Freundorfer 2003: 25). Diese Neigungsempfindlichkeit unterscheidet sich technisch vom Beschleunigungssensor in jüngeren Controllern wie dem Nunchuk von Nintendo. 15 Die Liste ließe sich noch erweitern, ich möchte jedoch nur auf das jüngste Mitglied dieser Familie hinweisen, den NUN-Joy: ein Microcontroller, der es erlaubt, einen Nunchuk der Wii am SUB-9-Port eines beliebigen Homecomputers anzuschließen und so Spiele wie Decathlon mit neuesten Input-Devices zu steuern. 16 Mein Experiment des Trackballs an Decathlon führt die Eskalation dieser damaligen Analog-Digital-Bruchstelle vor Augen. 17 Wie schnell etwa das aktuelle Modell der P!ayStation 3 ist, zeigt sich schon daran, dass einige Forschungsprojekte bis zu 32 Konsolen in einem Rechencluster einsetzen. (vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/PlayStation_3 _ cluster). 271 Digitale Analogien 20 I 0: 54 7) hält Einzug ins Spiel. Weniger gefährlich als bei den alten Digital-Joysticks sind die neuen Steuerungen indes auch nicht. Dies zeigen schon die Warn-Grafiken zu Beginn von Kinect-, Wiimote- und Move-Spielen, die aufgrund des spielerischen Gefuchtels nun allerdings weniger eine Gefährdung des Spielers als seines näheren Spielerumfeldes dräuen sehen (s. Abb. 6). (Ninf ndoj j X Allow adequate room around you · du ring game play. Put on and tighten the wrist strap. Hold the Wii Remote securely and do not Iet go of it. Use the Wii Remote Jacket. Abb. 6 Warnhinweis-Grafikvor Wii-Spielen, in denen auf die Gefahrdung von Gegenständen und Personen innerhalb des Spieler-Bewegungsradi us' hingewiesen wird. Quelle: http://www3.pcmag.com/media/images/246288-nintendo-wii.jpg (31.10.2012) Bibliografie Atarimuseum (o. J.): Atari Trakball Concepts. In: Atarimuseum.com. http: //www.atarimuseum.com/videogames/consoles/2600/trakconcept.html (31 .03.20 12) Coy, Wolfgang (2005): Analog/Digital. Schrift, Bilder & Zahlen als Basismedien. In: M. Arnke I W. Coy & G. C. Tho len (Hg.): HyperKult 11. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien. Bielefeld: transcript, S. 15- 26. 272 Stefan Höltgen Döring, Tanja I Sylvester, Axel & Schmidt, Albrecht (20 12): Be-greifen "Beyond the Surface". Eine Materialperspektive auf Tangihle User Interfaces. In: Bernhard Robben & Heidi Schclhowe (Hg.): Be-greifbare Interaktionen. Der allgegenwärtige Computer: Touchscreens, Wem·ables, Tagibles and Uhiquitous Computing. Bielefeld: transcript, S. 115-134. Ernst, Wolfgang (2004): Den A/D-Umbruch aktiv denken - medienarchäologisch, kulturtechnisch. In: Jens Schröter & Alcxander Böhnkc (Hg.): Analog/DigitalOpposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung. Bielefeld: transcript, S. 49-65. Forster, Winnie & Freundorfer, Stephan (Hg.) (2003): Joysticks. Eine illustrierte Geschichte der Game-Controller 1972-2004. Utting: Gameplan. Gonzales, Annette (2011 ): It's All In The Wrist: Carpal Tunnel And Gaming. In: Gameinformer, 06.04.2011. http://www.gameinformer.com/b/features/archive/ 20 II /04/06/it_1920_s-all-in-the-wrist-carpal-tunnel-and-gaming.aspx (30.03.2012) Hoffstadt, Christian (2010): Heilen/Zerstören- Die Hand als Medium und Schnittstelle von virtuellen Handlungen. In: Mariacarla Gadebusch Bondio (Hg.): Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte. Münster: Projektverlag, S. 447-462. Höltgen, Stefan (20 12): (Geschlechtsverkehr) spielen. In: Telepolis, 27.04.2012. http://www.heise.de/tp/artikel/36/36654/l.html (27 .04.20 12) Knet, Steven L. (200 1): The U/timate History of Video Games. From Pong to Pokemon and beyond - The History hehind the craze that touched our lives and changed our wor/d. New York: Three Rivers Press. Lu, William (2003): Evolution of Video Game Controllers: How Simple Switches Lead to thc Dcvelpoment of the Joystick and the Directional Pad. http://www .stanford.edu/group/htgg/cgi -bin/ drupal/si tes/default/files2/ wlu_2003 _1.pdf (30.03.2012) Montfort, Nick & Bogost, !an (2009): Racing the Beam. The Atari Video Computer System. Cambridge u.a.: MIT. Moore, Aaron (2009): Understanding Quadrature Encoding. In: ProtoTalk.Net. 26.01.2009. http://prototalk.net/forums/showthread.php?t=78 (31.03.20 12) Pflüger, Jörg (2005): Wo die Quantität in Qualität umschlägt. Notizen zum Verhältnis von Analogem und Digitalem. In: M. Arnke/W. Coy & G. C. Tholen (Hg.): HyperKult 11. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien. Bielefeld: transcript, S. 27-94. Pias, Claus (2010): Computer !3piel Welten. Zürich: diaphanes. Digitale Analogien 273 Wardalas, John (1994): From DATAR to the FP-6000: Technological Change in a Canadian Iudustrial Context. In: IEEE Anna/s of the HistOJ:V of Computing, Vol. 16,No.2, 1994,8.20-30. Weiser, Mare (1991): The Computer for the 21st Century. In: Scientific American, Sept. 1991, pp. 94-104 http://wiki.daimi.au.dk/pca/_files/weiser-orig.pdf (01.01.2013) Zeller, Tom Jr. (2005): A Great ldea That's All in the Wrist. In: The New York Times, 05.06.2005. http://www.nytimes.com/2005/06/05/weekinreview/05zeller.html (30.03.2012)